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Pornografie auf dem Schulhof – Interview mit Saskia Nakari

Madeleine Hankele-Gauß
Saskia Nakari, Medienpädagogin am Stadtmedienzentrum Stuttgart, sitzt im Interview ihrer Gesprächspartnerin gegenüber und gestikultiert mit den Händen.

Saskia Nakari, Medienpädagogin am Stadtmedienzentrum Stuttgart, im Gespräch über Pornografie und Jugendsexualität | Foto: Marlene Feller

Medienpädagogin gibt Tipps für Lehrkräfte und Eltern

Pornografische Bilder und Videos sind in Zeiten von Internet und Smartphone jederzeit und überall verfügbar: Dadurch kommen auch Kinder und Jugendliche früher damit in Kontakt als noch ihre Elterngeneration. Wie das ihre sexuelle Entwicklung beeinflusst und wie Lehrkräfte und Eltern mit Pornografie auf dem Schulhof umgehen können, verrät uns Saskia Nakari im Interview. Die Medienpädagogin am Stadtmedienzentrum Stuttgart bietet unter anderem Workshops zum Thema Sexualität und Pornografie an Stuttgarter Schulen an.
 

Material- und Linksammlung „Let’s talk about Porno“

Für Workshop „Jugendsexualität und Internetpornografie“ bewerben

Online-Dossier zu „Sexualität und Pornografie“

„Um auf Nummer sicher zu gehen, arbeiten Jugendliche lieber ‚ein bekanntes Skript‘ aus dem Porno ab“

Pornografische Bilder und Videos übernehmen heute einen Teil der Aufklärung von Kindern und Jugendlichen. Wie beeinflusst dies die Entwicklung ihrer Sexualität?

Laut neuesten Zahlen kommen viele Kinder etwa im Alter zwischen 12 und 13 Jahren ungewollt das erste Mal mit Pornografie in Kontakt. Vereinzelt sehen auch schon Grundschulkinder pornografische Fotos oder Bewegtbilder. Man kann also sagen, durch das Smartphone verschiebt sich in der sexuellen Entwicklung eine Reihenfolge. Plakativ am Beispiel von Jungs gesprochen, schauten sie sich früher klassischerweise nach dem ersten Samenerguss und der ersten Masturbationserfahrung pornografische Schriften an. Heute ist die Reihenfolge für die meisten eher: Samenerguss – Pornografie – Masturbation. Aus qualitativen Interviews wissen wir, dass durch den frühen „Einstieg“ ein gewisser Leistungsdruck und Unsicherheiten für eigene sexuelle Erfahrungen entstehen. Um auf Nummer sicher zu gehen, arbeiten Jugendliche lieber „ein bekanntes Skript“ aus dem Porno ab, anstatt auf ihren Körper und ihre eigenen Bedürfnisse zu hören.
 

Verschwimmen für Jugendliche also zunehmend die Grenzen zwischen Pornografie und Sexualität?

Ja – Jugendlichen fällt es tatsächlich leichter, Inszenierungen bei Superhelden- oder Horrorfilmen zu erkennen als bei Pornofilmen. Wenn jemandem der Kopf abgetrennt wird oder viel Blut im Spiel ist, ist die Inszenierung für sie leicht erkennbar. Bei Pornofilmen fehlt ihnen noch das Abstraktionsvermögen, um sie als das zu behandeln, was sie sind: Fantasyfilme für Erwachsene. Auch in diesem Genre wird vieles überzogen. Schauspieler/-innen nutzen Tricks und Kniffe, um besser performen zu können – und auch Sperma muss nicht immer echtes Sperma sein. Sex funktioniert zumindest in der Mainstream-Pornografie immer nach „Schema F“. Das heißt zwar nicht, dass Sex so überhaupt nicht funktioniert, aber Sexualität ist so viel mehr als das, was dort gezeigt wird.


Wo wir gerade bei Schema F sind: Welche Rolle spielen Genderstereotype?

Ein gängiger Stereotyp in der Mainstream-Pornografie ist zum Beispiel, dass Oralverkehr durch die Frau stets zum Vorspiel einer sexuellen Erfahrung dazugehört. Solche „Skripte“ internalisieren Teenager – und verlieren dadurch das Gespür dafür, wofür das Vorspiel eigentlich da ist. Auch das Wertesystem, das in diesen Filmen mitschwingt, ist problematisch: Meist gibt es eine Frau, die grober angefasst oder verbal verunglimpft wird. Dies vermittelt, dass zu Sexualität ein Machtgefälle und auch Gewalt dazugehören.

„Wie es weitergeht, entscheidet die Einzelfallanalyse“

Aus welchen Gründen verbreiten Kinder und Jugendliche Pornografie auf dem Schulhof oder im Klassenchat?

Die Absicht muss nicht immer sein, andere zu schocken – es kann sich auch um eine Art Schutzreaktion handeln. Gerade Grundschuldkinder, die Sachen zu sehen bekommen, die sie stark verunsichern oder überhaupt nicht einordnen können, wenden sich damit auch an Gleichaltrige. Sie fühlen sich wohler, wenn noch ein paar andere zum Beispiel ein pornografisches Foto gesehen haben und sie damit nicht „allein“ sind. Mittlerweile gibt es ja auch Sticker für Messenger, die beispielsweise Disney-Prinzessinnen in Sexsituationen zeigen. Hier spielt dann auch Gruppenzugehörigkeit eine wichtige Rolle: Kinder und Jugendliche möchten mitreden. Außerdem werden beim Anschauen Grenzen überschritten, die eine Distanz zu Erwachsenen markieren.


Angenommen, ein/-e Schüler/-in macht mich als Lehrkraft darauf aufmerksam, dass im Klassenchat ein pornografischer Inhalt gepostet wurden. Welche Möglichkeiten habe ich, darauf zu reagieren?

Zunächst einmal gilt es, Ruhe zu bewahren, um das Gesehene selbst einordnen zu können. Den betroffenen Schülerinnen und Schülern sollte auf jeden Fall die Möglichkeit geboten werden, sich über das Gesehene auszutauschen. Wie es weitergeht, entscheidet die Einzelfallanalyse: Um welche Art von Pornografie handelt es sich? Welche Schritte müssen eingeleitet werden, um Opfer zu schützen? Was kann im schlimmsten Fall weiter passieren? Welche Informationen müssen an Schulleitung und Eltern weitergegeben werden? Sollte die Polizei eingeschaltet werden? Um diese Fragen zu besprechen, können sich Lehrer/-innen entweder an Schulsozialarbeiter/-innen an der eigenen Schule oder an eine spezialisierte Fachberatungsstelle gegen sexualisierte Gewalt in ihrem Landkreis wenden. In Stuttgart ist dies die KOBRA e.V. Wichtig zu wissen ist, dass die Polizei sich nicht als Erstberater eignet, da sie bei Kenntnis eines Falls sofort strafverfolgend tätig werden muss.


Immer krassere Pornografie mit dem Smartphone zu verbreiten, kann heute auch als eine Art „Mutprobe“ gelten. Wann überschreiten Kinder und Jugendliche dabei die Grenze zur eigenen Strafbarkeit?

Generell sind Kinder unter 14 Jahren ja noch nicht strafmündig. Heutzutage sollte man trotzdem schon Grundschülerinnen und Grundschülern kindgerecht vermitteln, was das Recht am eigenen Bild und das Kunsturheberrecht im Alltag bedeuten. In ähnlicher Weise müssen wir älteren Kindern klar machen: Pornografische Schriften an Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren zu verbreiten ist nach dem Strafgesetzbuch verboten. Zwar werden Teenager nicht automatisch strafrechtlich verfolgt, wenn sie Pornografie verbreiten – jedoch handelt es sich hier eindeutig um einen Straftatbestand. Das müssen Jugendliche vermittelt bekommen. Wirklich problematisch kann es dann bei kinderpornografischen Inhalten werden. Allein der Besitz kann hier schon strafbar machen.


Was bedeutet das für Lehrkräfte: Wie sollten sie sich im Fall von kinderpornografischen Inhalten verhalten?

Lehrkräfte sollten kinderpornografische Inhalte auf jeden Fall zur Anzeige bringen – sich diese aber auf keinen Fall zur Beweismittelsicherung aufs eigene Smartphone senden lassen. Außerdem sollten Lehrer/-innen die Kinder und Jugendlichen frühzeitig darauf vorbereiten, dass sie ihre Handys in solchen Fällen als Beweismittel abgeben müssen. Um ihnen Mut für diesen sensiblen Schritt zu machen, könnte man je nach Alter zum Beispiel ihre Rolle als „Hilfspolizisten“ hervorheben oder ihre Bedeutung dafür, dass dieselben Inhalte nicht an noch jüngere Kinder gelangen. Auch wenn Lehrkräfte mitbekommen, dass Fremde über soziale Netzwerke zu Kindern in sexualisierter Form Kontakt aufnehmen, wäre dies ein Fall für die Polizei. Hier hingegen sind Screenshots vom Chatverlauf zur Beweissicherung notwendig.

„Wichtig ist außerdem, Sexualität in seiner ganzen Breite zu besprechen: nicht nur in Form von Risiken“

Pornografische Inhalte hinterlassen ein Kopfkino und lösen verschiedenste Gefühle aus: von Ekel über Erregung bis Angst und Scham. Welche „Erste-Hilfe-Maßnahmen“ können Lehrkräfte im Klassenzimmer leisten, um bei der Verarbeitung zu unterstützen?

Falls es Fälle von Pornografie an der Grundschule gibt, sollten diese immer mit den betroffenen Kindern in vertrauensvollen Einzelgesprächen besprochen werden. Spätestens ab der siebten Klasse sollte sexualisierte Gewalt über digitale Medien allerdings ein Thema im Klassenzimmer sein. Dabei geht es dann zum Beispiel um sexualisierte Bilder und Videos, die Jugendliche voneinander oder von sich selbst machen und die dann ohne Zustimmung an andere weitergeleitet werden. Und ab der neunten Klasse sollte man mit Schülerinnen und Schülern geschlechtergetrennt auch über Pornografie sprechen, um ihnen Unsicherheiten zu nehmen.


In einer Welt mit leicht zugänglicher Pornografie aufzuwachsen: Können Kinder und Jugendliche mit moderner Präventionsarbeit an Schulen darauf vorbereitet werden?

In den baden-württembergischen Bildungsplänen wird diese Präventionsarbeit leider randständig behandelt und an den Schulen häufig in Form von Workshops oder Projektwochen umgesetzt. Das ist dann oft nur „ein Tropfen auf den heißen Stein“. Stattdessen bräuchte es die wiederkehrende Beschäftigung mit den Themen Sexualität und sexualisierte Gewalt im Internet – am besten in einem fächerübergreifenden, spiralcurricularen Setting. Ein tolles Best-Practice-Modell hat aus meiner Sicht ein Gymnasium in Stuttgart umgesetzt. Es hat für die komplette Dauer der neunten Jahrgangsstufe ein zweistündiges Fach namens „Life Skills“ eingeführt, in dem unter anderem Sexualität, Pornografie oder auch Extremismus im Netz thematisiert werden. Wichtig ist außerdem, Sexualität in seiner ganzen Breite zu besprechen: nicht nur in Form von Risiken als „Gefahrenabwehrpädagogik“, sondern auch in Form von Diversität und Sex-positivity. Das Bundesland Bremen hat zum Beispiel schon im Jahr 2010 die Themen „sexuelle Lust“, „Selbstbefriedigung“ und „Funktionen von Sexualität“ in den Bildungsplan aufgenommen.


In der Eltern-Kind-Kommunikation ist das Thema Sexualität oft noch tabuisiert oder schambehaftet. Welche Tipps geben Sie Eltern, um mit ihren Kindern altersgerecht über Sexualität und Pornografie zu sprechen und sie vor Risiken zu schützen?

Für Eltern sollte es heutzutage genauso selbstverständlich sein, ihre Kinder vor Gefahren in den sozialen Medien zu warnen und zu schützen, wie sie dies im Straßenverkehr tun. Um für jedes Gerät und jede App kindersichere Einstellungen treffen zu können, gibt die Internetseite www.medien-kindersicher.de umfassend Auskunft. Mit steigendem Alter und wachsender Interneterfahrung können diese Einstellungen gelockert werden. Herzstück der Elternarbeit bleibt jedoch, ihren Kindern immer wieder Gesprächsangebote zu machen. Als „Vorbereitung“ können sich Eltern zum Beispiel die Videoreihe „Sex we can.at“ anschauen oder einmal den Begriff „Pornografie“ googlen. Wenn Eltern sich mit Gesprächen schwertun, können sie ihren Kindern zumindest Tipps geben, wo sie sich eigenständig informieren können. Empfehlen könnten sie unter anderem die Seite „Loveline.de“ der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA). Eltern sollte aber klar sein: Obwohl Kinder lieber mit Gleichaltrigen über Sexualität sprechen, sind sie als Eltern dennoch die wichtigsten Ansprechpartner/-innen, wenn es um Aufklärung geht.


Herzlichen Dank für das Gespräch!

Madeleine Hankele-Gauß

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