Navigation überspringen
  1. Sie befinden sich hier:
  2. Landesmedienzentrum
  3. Aktuelles
  4. Aktuelles
  5. Welche Faktoren beeinflussen das Demokratieverständnis von Jugendlichen? – Interview mit Frank Buchheit

Welche Faktoren beeinflussen das Demokratieverständnis von Jugendlichen? – Interview mit Frank Buchheit

Christian Reinhold
Ein Mann, der Mitarbeiter am Landesmedienzentrum ist mit grauen Haaren und Brille laechelt in die Kamera.

Foto: Marlene Feller, LMZ

Gespräch über Demokratie, Extremismus und soziale Medien

Frank Buchheit ist stellvertretender Leiter des Referats Medienbildung am Landesmedienzentrum Baden-Württemberg. Wir haben mit Frank über die Themen Demokratie, Extremismus und soziale Medien gesprochen: Über die Faktoren, die das Demokratieverständnis von Heranwachsenden prägen und darüber, wie soziale Medien dieses beeinflussen. Beim Gespräch ging es auch darum, warum auf TikTok und Co. so viele antidemokratische Inhalte funktionieren und was das alles mit dem Klassenzimmer zu tun hat.

Zum Online-Dossier „Extremismus“

Zum Artikel „Medienbildung vor der Europawahl – Alle LMZ-Angebote auf einen Blick“

„Was das Demokratieverständnis angeht, glaube ich: Unser soziales Gehirn funktioniert wie eine Art Muskel, welcher ab den Kindesbeinen trainiert wird“

Lieber Frank, Wir haben ja gehört, dass du als Extremismus-Experte unterwegs bist und bereits die Ränder der Gesellschaft kennengelernt hast. Welche Schlüsselerlebnisse hattest du in deiner langjährigen Arbeit im Bereich der Deradikalisierung, die dein Verständnis von Demokratie geprägt haben?

Ich würde fast noch ein bisschen früher anfangen. Als Schüler war ich lange Zeit bei den Pfadfindern unterwegs, dann in der SMV und später auch Schülersprecher, wo ich den Schulalltag mitgestalten konnte. Später habe ich in der Jugendkulturarbeit aktiv mitgearbeitet und z. B. einen Schülerstreik mitorganisiert. Beinahe hätten wir die Fantastischen Vier für einen kleinen Club in der Nähe von Stuttgart als Act bekommen, als sie noch unbekannt waren. Das waren meine ersten Highlights der gesellschaftlichen Teilhabe. Mit anderen etwas auf die Beine zu stellen, das war immer der tragende Gedanke. Das war meine Schule der Demokratie.

Später war ich dreizehn Jahre lang im Aussteigerprogramm für Rechtsextremisten tätig. Dabei konnte ich Menschen kennenlernen, die sich nicht nur verlaufen haben, sondern komplett in der falschen Ecke angekommen waren. Diese Negativbeispiele haben mich geprägt.

 

Beim Blick auf die letzten 50 Jahre deutscher Geschichte stellt man fest, dass antidemokratische Tendenzen immer da waren, aber nicht so stark sichtbar wie im letzten Jahrzehnt. Welche Faktoren beeinflussen deiner Meinung nach die Akzeptanz oder Nichtakzeptanz von Demokratie?

Wir hatten ja auch in den 70er und 80er Jahren in Deutschland politisch sehr aufregende Zeiten, mit der RAF, den Friedensdemos und der Wiederaufrüstung. Da wir aber so stark im Jetzt gefangen sind, bekommt man den Eindruck, dass das früher nicht so war.

Was das Demokratieverständnis angeht, glaube ich: Unser soziales Gehirn funktioniert wie eine Art Muskel, welcher ab den Kindesbeinen trainiert wird: durch Aktivitäten in der Schule, in Freundeskreisen, Vereinen und das, was ich in den Medien mache. All das beeinflusst, wie ich mich in Gemeinschaften oder in der Gesellschaft einbringe. Am relevantesten sind dabei Eltern und die Kernfamilie. Später kommen immer weitere Kreise hinzu, die ich mir spätestens in der Pubertät selbst aussuche. Das Schöne an der Pubertät ist, dass unser Gehirn hier noch mal komplett umgebaut wird. Das bedeutet, dass auch wenn vorher irgendwas komisch lief, wir in der Pubertät eine gute Chance haben, dass bereits Angelegte noch mal zu überschreiben. Als Jugendliche/-r hat man insofern eine große Verantwortung, mit den ganzen Einflüssen umzugehen. Wir ältere Menschen sorgen uns darum, dass sich Heranwachsende verlaufen können, wobei das nur wenige auf Dauer tun.

 

Würdest du sagen, dass gesellschaftliches Engagement das Verständnis und die Akzeptanz von Demokratie fördert? Oder spielt das häusliche Umfeld – die eigenen vier Wände – eine größere Rolle?

Man kann diese beiden Sphären kaum noch trennen. Dank Online-Foren, E-Sport und sozialen Netzwerken kann man sich von zu Hause aus sehr gut mit der gesamten Gesellschaft vernetzen und aktiv werden. Sich gesellschaftlich zu engagieren ist, wie gesagt, ein Muskel, den man trainiert. Je mehr Spaß es macht, desto mehr engagiert man sich. Dies kann dazu führen, in einer Rolle Verantwortung zu übernehmen, weil man gemeinsam mit anderen etwas erreichen möchte. Wenn man in seinem E-Sport-Clan Regeln einführt, dann engagiert man sich zum Beispiel sozial. Oder im realen Leben, wenn man sich für Verkehrsberuhigung einsetzt. Es läuft immer auf dasselbe hinaus: Man möchte aktiv mit anderen zusammenarbeiten. Es gibt die unterschiedlichsten Angebote, aus denen Menschen auswählen können.

Selbst extremistische Gruppen werben damit, dass man bei ihnen mitmachen und die Welt nach deren Vorstellungen verändern kann. Diese Art der Pseudo-Beteiligung kann verlockend sein. Menschen, die sich radikal engagieren, tun dies häufig zunächst aus dem Wunsch heraus, etwas Gutes zu tun. Im Kontext des aktuellen Konflikts um Gaza zum Beispiel geraten manche über Empathie und den Wunsch zu helfen da hinein. Sie finden dann aber falsche Erklärungen und stricken sich eine Weltsicht. Deshalb sehe ich im Engagement noch die Gemeinsamkeit zwischen denen, die sich radikal engagieren, und den anderen: Man muss aber selbst entscheiden, für welches Ideal und welches Gesellschaftsbild man sich einsetzt.

„Das Problem liegt also oft in dysfunktionalen Familien, unabhängig vom sozialen oder wirtschaftlichen Status.“

Du hast ja in deiner Arbeit bei der Polizei viele Biografien kennengelernt und erfahren, wie diese Menschen aufgewachsen sind oder ihre Jugend verbracht haben. Wie stark beeinflussen Faktoren wie das Elternhaus oder der Freundeskreis im Jugendalter die spätere Einstellung gegenüber der Demokratie? Oder anders gesagt: Werden im Jugendalter bereits die Weichen gestellt?

Man muss ja zunächst mal in Kontakt mit bestimmten Dingen kommen. Das ist heute im Internet leichter als früher. Wenn ich in einem kleinen Dorf aufgewachsen bin und nur meine zehn Freunde hatte, von denen keine/-r radikal war, dann hatte ich kaum Gelegenheit, auf extreme Gedanken zu stoßen. Heute kann ich online mit vielen Dingen in Berührung kommen, die nichts mit meinem direkten Umfeld zu tun haben. Das weckt erstmal Interesse, ich möchte vielleicht mehr darüber wissen und involviere mich dann.

Im nächsten Schritt wird dieses Interesse intensiver und kann zu einem wichtigen Teil meines Selbstbilds werden. Dann spielt das Elternhaus oder die Gemeinschaft, in der ich mich bewege, eine große Rolle. Ich habe schon Aussteiger/-innen in prächtigen Häusern besucht, wo äußerlich alles perfekt schien, aber es fehlte an Liebe und Fürsorge. Das Problem liegt also oft in dysfunktionalen Familien, unabhängig vom sozialen oder wirtschaftlichen Status. Es kann in einem Palast genauso passieren wie in einer Hütte.

Ein sehr wichtiger Faktor ist die Bindung und der Kontakt, den Eltern, Lehrkräfte, Sozialarbeiter/-innen oder Freunde zu diesem Menschen haben. Sie müssen mit ihm oder ihr über seine Interessen sprechen und das, was er oder sie in den Medien sieht oder hört. Wenn diese Kommunikation fehlt, ist eine wichtige Sicherung weg und es kann in eine negative Richtung weitergehen. Daher ist es entscheidend, sich mit Jugendlichen auszutauschen und sie zu unterstützen.

 

Du hast wahrscheinlich schon oft gesehen, wie sich Menschen entwickeln, wenn sie an solchen Aussteigerprogrammen teilnehmen. Von außen betrachtet ist es schwer vorstellbar, dass Menschen, die so tief in eine bestimmte Szene oder Subkultur eingebunden sind, ausbrechen können. Damit das gelingen kann: Wo müssen diese Aussteigerprogramme ansetzen?

Ein Beispiel aus meiner eigenen Jugend: Da habe ich viel Punk gehört und später auch Metal und ganz andere Musikstile. So wie sich mein Musikgeschmack erweitert hat, können sich alle Menschen neu orientieren. In der Pubertät ist das deutlich einfacher, weil man sich selbst findet und ausprobiert. Man testet verschiedene Dinge aus, manchmal aus Protest oder einfach, um sich auszudrücken. Ein paar Wochen später ist man dann vielleicht schon wieder bei etwas Neuem. Und wenn die große Liebe kommt, dann ist das Interesse womöglich ganz woanders.

Erwachsene sind da beständiger und verändern sich nicht so schnell. Es braucht mehr Energie, um aus eingefahrenen Gewohnheiten auszubrechen und etwas Neues zu beginnen. Aber es ist nie unmöglich. Ich erinnere mich an den ältesten Aussteiger, den wir beraten haben. Er war Mitte 50, und es war sehr schwierig, weil sein ganzes Leben in eine bestimmte Richtung verlaufen war. Doch auch bei ihm hat es letztendlich geklappt. Er hatte enormen Stress und vieles ging schief in seinem Leben, aber gerade dieser Druck hat ihn dazu gebracht, grundsätzlich über sein Leben nachzudenken und sich zu verändern.

 

Das sind interessante Schilderungen. Ein weiterer Punkt, den wir heute haben, den es vor 10 oder 20 Jahren nicht gab, sind soziale Netzwerke wie TikTok. Diese sind oft schlecht oder gar nicht moderiert und es ist sehr einfach, dort populistische oder feindselige Botschaften zu verbreiten. Warum funktionieren solche Inhalte so gut auf sozialen Netzwerken? Und wie weit liegt die Verantwortung dafür bei den Plattformen?

Plattformen wie TikTok haben einen Algorithmus, der uns ständig mit spannenden, lustigen oder emotionalen Inhalten füttert. Man öffnet TikTok und merkt plötzlich, dass zwei Stunden vergangen sind. Die Algorithmen, welche dafür sorgen, dass man auf einer Plattform bleibt, greifen genau die Emotionen auf, welche Menschen faszinieren.

Facebook war ursprünglich als Netzwerk für Studierende gedacht, wo es viel um Gerüchte und Neuigkeiten ging. Nach solchen Nachrichten gieren wir Menschen. Das Prinzip funktioniert aber auch, wenn jemand eine Agenda mit schrägen Inhalten hat. Extremistische Akteure – aber beispielsweise auch die Sexindustrie – nutzen neue Medienmöglichkeiten intensiv, weil sie auf klassischen Plattformen unerwünscht sind. Sie können auf neueren Plattformen leicht Menschen finden und anziehen, die wütend oder unzufrieden sind.Wenn jemand einen Hasskommentar postet, bekommt er zudem Zuspruch von anderen Hatern. So können sie virtuelle Räume dominieren, andere Nutzer/-innen vertreiben und ihre negativen Emotionen verbreiten. Eigentlich wollten weder Mark Zuckerberg noch TikTok solche Entwicklungen. Die Plattformen sollen Spaß machen und positive Erfahrungen bieten. Deshalb ist es wichtig, diese Räume zurückzugewinnen und nicht den Extremisten zu überlassen, die nur maximale Aufmerksamkeit für ihre Botschaften suchen.

„Ich glaube, wir sind die Chefredakteurinnen und Chefredakteure unserer eigenen Tageszeitung“

Kann man sich überhaupt gegen polemische Inhalte schützen oder sich so etwas wie einen Filter aneignen? Und können das auch Kinder?

Also ich glaube, wir können nicht aus unserer Haut: Der Mensch sitzt im übertragenen Sinne immer noch in seiner Höhle am Lagerfeuer und interessiert sich für Gerüchte und Gossip. Wir hören einfach gerne Geschichten. Doch man kann sich einen Filter zulegen. Ein alter Philosoph meinte, dass jede Information, die ich an mich heranlasse, auf Wahrheit, Güte und Nützlichkeit geprüft sein sollte. Wenn eines der drei Kriterien nicht zutrifft, dann empfiehlt Sokrates, vorsichtig zu sein oder sich nicht damit zu beschäftigen.

Ich glaube, wir sind die Chefredakteurinnen und Chefredakteure unserer eigenen Tageszeitung, indem wir das zusammenstellen können, was wir als Medien konsumieren. Und wenn wir diese drei Siebe oder Filter vorschalten, z. B. wenn es bei TikTok gerade so spannend ist oder wir schon seit zwei Stunden lustige Katzenvideos angucken, dann lohnt es sich zu fragen: Ist es wirklich wahr, was dort präsentiert wird? Ist es wirklich gut, was dort präsentiert wird und bringt es mich irgendwie weiter oder sollte ich nicht gerade Hausaufgaben machen? Dann kann ich mich am eigenen Schopf wieder herausziehen.

 

Ja, das klingt vernünftig. Viele Jugendliche haben diese Reflektionsfähigkeit noch nicht entwickelt. Wir können wir das denn im Deutschunterricht oder Geschichtsunterricht vermitteln?

Man kann das in mehreren Fächern thematisieren. Wir haben zudem die Leitperspektive „Medienbildung“ und sie thematisiert auch, wie man seine Informationen auswählt oder was man konsumiert. Man kann das auch in „Prävention und Gesundheitsbildung“ oder sogar im Deutschunterricht integrieren. Wer in Deutsch „Die Leiden des jungen Werther“ liest, kann sich mit der Verantwortung der Medien auseinandersetzen. Auch in anderen Fächern, von Ethik über Geschichte bis Politik, stößt man immer wieder auf Themen, bei denen Gerüchte und Medien eine Rolle spielen und zu Entscheidungen führen. Ich denke, es gibt viele Möglichkeiten, das im Unterricht aufzugreifen, und es ist eine Chance, die die Schule nutzen sollte. Es geht nicht nur um Vergangenes, sondern auch darum, die aktuellen Anliegen der Kinder und Jugendlichen zu berücksichtigen. Wenn die Schule aufgreift, was die Schüler/-innen interessiert, dann kommen wir nicht um diese Themen herum und können ihre Interessen einbinden.

 

Ja, das ist ein wichtiger Punkt: Eine Lehrkraft sollte engagiert sein und die Schüler/-innen genau im Blick haben. Leider bemerken wir manchmal, dass sich extremistische Tendenzen langsam einschleichen. Ein Schüler macht vielleicht eine Anspielung auf Hitler, eine andere Schülerin verbreitet irgendwelche fragwürdigen Ansichten. Was kann eine Lehrkraft in solchen Situationen kurz- und langfristig tun?

Als Pädagoge oder Pädagogin habe ich drei Ansatzpunkte: erkennen, deuten, handeln. Es lohnt sich zu verfolgen, welche Medien die Schüler/-innen konsumieren, welchen Trends sie folgen, wer ihre Vorbilder sind und wo sie Zeit verbringen. Erst darüber kann ich erkennen, ob sich etwas in eine gute oder in eine bedenkliche Richtung entwickelt. Dabei hilft es, eine Beziehung zu den jungen Menschen aufrechtzuerhalten und sie nicht nur in einer Rolle, beispielsweise als Schüler/-in zu sehen, sondern auch als Individuum mit eigener Geschichte und Persönlichkeit. So kann ich einschätzen, ob ihr Verhalten nur eine Provokation ist oder ob sie tatsächlich auf Probleme aufmerksam machen. Wenn ich Anzeichen für Letzteres sehe, kann ich selbst aktiv werden, oder mir Hilfe holen – sei es von Schulsozialarbeitenden, Schulpsychologen oder anderen Unterstützungsangeboten. Ich muss nicht allein handeln, sondern kann auf ein Netzwerk von Fachleuten zurückgreifen. Das Wichtigste ist jedoch, die Signale zu erkennen, sie zu verstehen und angemessen zu handeln. Das ist der Schlüssel zum Umgang mit schwierigen Situationen.

 

Angenommen, du müsstest einen Vortrag vor den 20 bekanntesten Influencern in Deutschland halten, um ihnen zu erklären, wie sie dazu beitragen können, Deutschland online positiv zu beeinflussen. Was würdest du ihnen sagen, wenn du drei Minuten Zeit hättest?

Ich habe großen Respekt vor Influencern. Beruflich konnte ich eine bekannte Influencerin näher kennenlernen. Sie hat mir erklärt, wie wichtig es ist, die Community zu pflegen und keine Fehler zu machen, die zu einem Shitstorm führen könnten. Es ist schwierig, weil man immer aktuell sein möchte, aber gleichzeitig aufpassen muss, keine unüberlegten Beiträge zu veröffentlichen. Mein Tipp für alle Nutzer/-innen sozialer Medien, nicht nur für Influencer, ist daher, Beiträge vor dem Veröffentlichen noch einmal zu überdenken und sich zu fragen, ob sie wirklich klug sind. Besonders wenn man viele Follower/-innen hat, sollte man sich bewusst darüber sein, wen man mit seinen Beiträgen möglicherweise verletzt. Es dauert Jahre, sich als Influencer/-in einen guten Ruf aufzubauen, aber nur wenige Stunden, ihn zu zerstören.

Vielen Dank! Das ist ein großartiges Resümee für uns. Wir sollten darauf achten, unsere Worte sorgfältig zu wählen. Also vielen Dank für deine Zeit.

Christian Reinhold

E-Mail senden

Diese Seite teilen: